Über mehrere Monate kritisierte ich – wie viele anderen und so mancher Experte auch – die geradezu manische Fokussierung auf die sogenannte Inzidenz. So wie beispielsweise der Epidemiologe Gérard Krause, der bereits im November 2020 kritisierte: „Aus epidemiologischer Sicht greift die Fixierung der Sieben-Tages-Inzidenz als vorherrschender Indikator der Pandemiebekämpfung zu kurz und verschenkt verfügbare Alternativen.“ Erklärt wird dies sehr einfach und nachvollziehbar: „Bei gleicher tatsächlicher Fallzahl kann also am Ende die Testaktivität darüber entscheiden, ob die Grenzwerte von 20, 50 oder 200 bei der Sieben-Tages-Inzidenz überschritten werden.“ Weiter wurde argumentiert: „Auch als Frühindikator für später auftretende Krankheitslast ist die Inzidenz nicht gut geeignet.“ Eine Gruppe von Experten, zu denen die ehemaligen Gesundheitsweisen Prof. Matthias Schrappe (Universität Köln) und Prof. Glaeske (Universität Bremen) gehören, hatten vorgeschlagen, die Sieben-Tage-Melderate durch einen Index zu ersetzen, der stärker differenziert und Aspekte wie die Hospitalisierungsrate berücksichtigt. Die im Infektionsschutzgesetz aufgenommenen Werte von 35 bzw. 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner seien, so die Autoren, „unrealistisch und verletzten das zentrale Gebot der Erreichbarkeit“. Selbst „Starvirologe“ Christian Drosten schlug vor, für gefährdete Altersbänder eine gesonderte Inzidenz auszuweisen, um damit genauere Rückschlüsse auf die Gefahr lokaler Krankenhausüberlastungen abzuleiten (Ü50-Inzidenz).
Die Sieben-Tage-Inzidenz wurde jedoch von der Regierung gegen jeden Widerstand verteidigt und im Zentrum aller Corona-Bewertungen gehalten. Beispielsweise auch auf meine Anfrage Drs. 18/9104, wo ich die Landesregierung danach befragte, wieso sie sich trotz der Kritik an der Zahl derart stark an ihr orientiert. Auch wenn die Landesregierung hier ein paar Argumente nannte: Auf die Vorbehalte der Inzidenz-Kritiker wurde schlicht nicht eingegangen.
Manchmal wurde zur Verteidigung der Inzidenz auch auf Kapazitätsgrenzen in der Kontaktnachverfolgung verwiesen – obwohl diese Kapazitäten einerseits lokal unterschiedlich und andererseits auch anpassbar sind.
Nun aber, plötzlich: Die Verantwortlichen der Corona-Politik schwenken ein. Gesundheitsminister Spahn empfiehlt nun, als Orientierung bei der Regelung von Corona-Maßnahmen die Hospitalisierungsrate zu verwenden. Auch Kanzlerkandidat Laschet sagt: „Die Inzidenz allein ist nicht mehr aussagekräftig“. Was aber heißt „nicht mehr“? War sie überhaupt je ausreichend aussagekräftig, um folgenschwere Lockdowns und Maßnahmen in dieser Form zu rechtfertigen?
Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident, behauptet, aufgrund der Impfquote sei nun die Inzidenz nicht mehr passend. Wird die Inzidenz also erst durch die höhere Impfquote zu einer nicht mehr brauchbaren Zahl? Eine gewagte These.
Ich behaupte: Die Inzidenz war allein nie ausreichend aussagekräftig. Trotzdem wurde aber so getan, als wäre sie es und auf Basis der Zahl das gesamte gesellschaftliche Leben in drastische, Monate andauernde Lockdowns mit schwerwiegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen gezwungen. Alles auf Basis einer Zahl, die bereits durch die Menge an Tests (die Testaktivität) festgelegte Grenzwerte überschreiten konnte. Die Kritik an diesem Vorgehen ist nach wie vor nicht ausgeräumt.